Ein Samstagnachmittag (21.03.2020) in Aschendorf. Blauer Himmel, strahlend schönes Wetter, die richtige Zeit, um den Frühling draußen zu genießen. An der Straße entlang der Bahnlinie zeigt sich die Weißdornhecke jetzt im frischesten Grün des ganzen Jahres. Da fällt es nicht einmal auf, dass die Bahn es seit geraumer Zeit an der Pflege der Hecke sichtbar mangeln lässt und ein Schnitt längst überfällig ist. Vor vielen Hauseingängen stehen bunt bepflanzte Schalen und Kübel und stimmen Bewohner und Passanten auf das Frühjahr und das nahende Osterfest ein. Man könnte meinen, es ist ein ganz normaler Frühlingstag, wie er so in jedem Jahr vorkommt.
Und doch ist in diesem Jahr 2020 vieles anders. Ein Virus mit Ausgang in China verbreitet sich mit rasantem Tempo über den Globus und zieht alle Welt auf leider unsägliche Art in seinen Bann. Jede und jeder bis in den kleinsten Ort hinein ist mindestens durch bereits ergriffene und sich ständig weiter verschärfende staatlichen Schutzmaßnahmen tangiert. Im Volksmund kurz Coronavirus genannt, wissenschaftlich als Sars-CoV-2 bezeichnet, verursacht das Virus die bislang nicht beherrschbare Lungenkrankheit Covid-19. Einen Impfstoff gibt es (noch) nicht.
Corona, das lateinische Wort für Kranz, war mir im Sprachgebrauch bisher nur als Bezeichnung für ein Zigarrenformat durchaus achtbarer Länge und nicht minderen Ringmaßes und als Fachterminus für das Kranzgesims antiker Tempel bekannt. Nun wird es uns in seiner weiteren Bedeutung als die geläufige Kurzbezeichnung der amtlich ausgerufenen Corona-Pandemie im Gedächtnis haften bleiben. Und wie es aussieht, nicht nur dort.
Auswirkungen der Pandemie und der gegen sie getroffenen Schutzmaßnahmen sind auch an diesem Frühlingsnachmittag zu spüren und zu sehen. Fast menschenleere Straßen, im Taxusgarten um das Gut Altenkamp, der sonst um diese Jahreszeit gerade am Wochenende ein beliebtes Ziel für Spaziergänger ist, begegnen mir bei meinem Rundgang gerade einmal eine Handvoll Besucher und ein Dackel. Die geltenden behördlichen Anordnungen zur Einschränkung der Sozialkontakte zeigen so auch hier bereits Wirkung. Beinahe nebenher bemerke ich, dass die Gräften um den Taxusgarten nach dem trockenen Vorjahressommer nun einen bemerkenswert hohen Wasserstand aufweisen und der Maulwurf im hinteren Gartenbereich ganze Arbeit geleistet und dabei eine achtbare Hügellandschaft im Rasen hinterlassen hat, die das Gärtnerherz höher schlagen und den Gärtner zum Mörder werden lässt, wäre da nicht der Natur- und Artenschutz, der das Töten des Missetäters bei Strafe verbietet. Hingegen ganz ohne Groll und im Gegenteil mit Wohlwollen fällt der Blick auf die lange Reihe der vor einigen Jahren beidseits eines Weges neu gepflanzten Linden, die augenscheinlich erst kürzlich fachgerecht und sorgsam beschnitten wurden und auch sonst pflegerisch gut dastehen.
Mein weiterer Weg durch den Ort führt an einem Bestattungshaus vorbei, das vielleicht in naher Zukunft zu den wenigen Wirtschaftsunternehmen gehören könnte, die keine Umsatzeinbußen oder gar Schlimmeres befürchten müssen. Auch im Ortskern herrscht Leere. Neben einer bereits sehr schön österlich gestalteten Schaufensterdekoration weist ein handschriftliches Schild an der Eingangstür darauf hin, dass das Bekleidungshaus wegen der aktuellen Anordnungen zur Corona-Prävention geschlossen bleiben muss. Ein sonst gut frequentiertes Elektrogeschäft in der Nachbarschaft teilt das gleiche Schicksal.
An der katholischen Amanduskirche fängt sich die Frühlingssonne an der Südseite in einer windstillen Ecke. Das hat auch ein holländisches Bikerpaar erkannt, das es sich dort für eine kurze Rast gemütlich gemacht hat und die Sonne und die Pause in vollen Zügen zu genießen scheint. Das Schild am Kirchenportal indes lässt solche Freude nicht aufkommen. Weist es doch darauf hin, dass die Gottesdienste auf bischöfliche Anordnung als Schutzmaßnahme gegen die Ausbreitung des Coronavirus entfallen. Während ich für diesen Artikel ein Foto vom Wetterhahn und der Kirchturmuhr mache, eilt der Ortspfarrer gerade flotten Schrittes über den Kirchplatz an seinem nun weitgehend verwaisten Hauptarbeitsplatz vorbei, vielleicht unterwegs hin zum Schreibtisch im nahen Pastorat. Was mag ihn gerade bewegen? Vielleicht der Gedanke, dass die Schäfchenherde nach Corona noch so groß wie vorher sein möge, oder die Vorstellung, dass das eine oder andere Schäfchen der Kirche gänzlich den Rücken kehren könnte, nachdem es, z. Zt. vom Sonntagsgebot befreit, die Vorteile des frei verfügbaren Sonntagmorgens für sich entdeckt hat. Tröstlich stimmt mich, dass die Kirche weiter geöffnet ist und nicht zuletzt durch dezente Beleuchtung sehr einladend wirkt und weiter zum Besuch und Gebet geöffnet ist. Andere Gläubige finden sich während meines Besuchs gerade nicht im Gotteshaus, aber die vielen brennenden Opferkerzen lassen dennoch auf Besucher schließen, die das Angebot nutzen. Ein sonst ausliegendes Fürbittbuch vermisse ich (gerade in diesen Tagen), andererseits lädt die am Ambo in der Vorderkirche ausliegende schöne Bibel, aufgeschlagen bei Matthäus 12, zum Lesen ein. Die Weihwasserbecken an den Eingängen, die der üblichen Bekreuzigung beim Eintreten und Verlassen der Kirche dienen, bleiben im Zuge der Virenschutzmaßnahmen im Augenblick leer.
Nur wenige Schritte weiter erreiche ich den Marktplatz und sehe auch dort kaum parkende Autos und nur vereinzelt Besucher der umliegenden Banken. Auch im Schaukasten des Heimatvereins spiegelt sich die gegenwärtige Ausnahmesituation wider. Ein Konzertplakat mit dem in diesen Tagen vielerorts zu sehenden „Veranstaltung entfällt“-Aufkleber und die aktuelle Ausgabe der „Hofnachrichten“ mit der Bekanntgabe weitgehender Nutzungsbeschränkungen für das Heimathaus bezeugen die Allgegenwärtigkeit der Schutzmaßnahmen. Das gilt auch für den Aushang in der Sparkasse mit nützlichen Hinweisen zum richtigen Verhalten der Kunden bei Erledigung ihrer Bankgeschäfte.
Mein Spaziergang führt weiter hinüber in das Gewerbegebiet. Zuvor erinnert mich der Blick auf die nahe Apotheke an meinen gestrigen Einkauf dort und vor allem daran, dass die Marktwirtschaft auch in Krisenzeiten funktioniert, und sich die Preise folglich nach Angebot und Nachfrage richten. Zwei wegen des unversehens im ganzen Land entstandenen Nachfrageengpasses zunächst nicht mehr lieferbare Atemschutzmasken wechselten zum stolzen Preis von rd. 38 € (!) den Besitzer. Mich erinnerte das an eine allerdings nur bedingt vergleichbare Situation vor einigen Jahren, als ein plötzlicher Wintereinbruch zu rasanten Preissteigerungen beim Streusalz führte, das dann nach Ende der Kälteperiode wegen Überbestands als Ladenhüter weit billiger zu erstehen war. Und natürlich liegt auch der Gedanke an günstige Bezinpreise nahe. Die Konjunkturlage fällt gegenwärtig krisenbedingt international und mit ihr der Rohölpreis.
Beim Überqueren der Brücke am Marienplatz fällt mein Blick auf die Verkehrsinsel im Kreisverkehr an der Rheder Straße, die jetzt im satten Gelb blühender Forsythien und Narzissen freundlich stimmt und in Gestaltung und Pflege ein gutes Bild auf die Stadtgärtner wirft. Getoppt wird dieser Eindruck bereits einige Schritte vorher, wenn nämlich der Blick des aufmerksamen Spaziergängers über das sich unterhalb der Brücke ausbreitende Gewässer schweift und dann in Ufernähe auf ein imposantes Schwanennest und eine Schar Enten fällt. Die dabei zufällige Begegnung mit dem ehemaligen Ortsbürgermeister lässt indes erkennen, dass in Zeiten von Corona sogar die Begrüßungsfloskeln andere sind und der neuen Gesundheitslage Rechnung tragen. Statt des gewohnten „Moin“ und „Tschüß“ hieß es nun „Noch gaud mit Di?“ und zum Abschied „Bliev gesund!“ Dass dabei auf den sonst obligatorischen Handschlag verzichtet und im Gespräch auf den allseits propagierten Sicherheitsabstand von anderthalb Metern geachtet wurde, verdeutlicht in diesem Zusammenhang einerseits den in jeder Nachrichtensendung öffentlich verkündeten Ernst der Lage und andererseits auch die immer bessere Befolgung der landauf und landab propagierten Schutzmaßnahmen des häufigen Händewaschens und des Abstandhaltens. Geschlossene Schulen und Kindergärten und die besonders gefühlsbelastenden Kontakteinschränkungen zwischen Großeltern und Enkelkindern sind weitere bereits geltende Maßnahmen im Kampf gegen das Virus.
Im Industriegebiet bietet sich ein anderes Bild als in der Ortsmitte. Die Parkplätze der hier vornehmlich angesiedelten Lebensmittelsupermärkte, die von den behördlich verfügten Schließungen ja nicht betroffen sind, sind verhältnismäßig gut frequentiert. Andere Geschäfte weisen in Aushängen aber auf die temporäre Schließung hin oder informieren über Verhaltensregeln. Ein überörtlich bedeutender Schuhmarkt, der ebenfalls zur Gruppe der schließungsbetroffenen Betriebe gehört, bietet mit den großen, leeren Parkplätzen ein ungewohntes Bild, wobei unweigerlich auch die wirtschaftliche Folgen in den Focus des Nachdenkens rücken. Das schönste Frühlingswetter kann vermutlich nicht über merkliche Umsatzeinbußen im Ostergeschäft hinwegtrösten, ganz abgesehen vom möglichen Schmerz der Damen, die gerade zu Ostern auf neue Schuhe stehen und sie in diesem Jahr aller Voraussicht nach im Osternest vermissen werden.
Der Rückweg meines samstäglichen Spaziergangs führt über die Ellerlohstraße durch die herrlich aufgrünende Feldflur, in der an diesem Nachmittag nur zwei gut gelaunte Radfahrer, die der häuslichen Enge überdrüssig sind, Abwechslung suchen und meinen Weg kreuzen, der am Friedhof vorbei zum Heimathof führt. Am Friedhof erinnere ich mich an einen häufig gehörten Ausspruch meiner damals hochbetagten Mutter, dass Alter einsam macht. Jetzt verstehe ich ihre Worte noch besser, und unter dem Eindruck der Corona-Krise haben sie jetzt einen merkwürdigen Beigeschmack.
Am Heimathof fällt der Blick dank tatkräftiger gärtnerischer Hilfe auf einen frisch gepflegten Garten und ein Meer von gelben Narzissen, die entlang der Hofeinfahrt und auf vielen Baumscheiben jetzt im Zenit ihrer Blüte stehen. Aber auch hier prangt an der Tür, wo sich sonst viele Leute die Klinke in die Hand geben, in auffälligem Orange ein Hinweisblatt, dass auf gesundheitsbehördliche Empfehlung keine Veranstaltungen durchgeführt werden und wegen der geltenden Anordnungen zur Einschränkung vermeidbarer Sozialkontakte auch die Öffnungszeiten entfallen.
Den letzten Gedanken meines Spaziergangs widme ich auf der Bank am Backhaus des Heimathofs der Politik, die in Bund, Ländern und Kommunen alle Hände voll zu tun hat, um der Lage Herr zu bleiben. Mir kommt dabei ein weiterer von meiner Mutter übernommener Ausspruch ins Gedächtnis, der da lautet „Not schweißt zusammen!“ Das jedenfalls ist mein derzeitiger Eindruck von der Berliner Großen Koalition, die den Ernst der Stunde erkannt zu haben scheint und, statt sich weiter in Parteigezänk zu zerreiben, alles daran setzt, der Situation gemeinsam Herr zu werden. Auch Niedersachsens Ministerpräsident bemüht sich nach Kräften, seiner Rolle als Landesvater gerecht zu werden. Gott sei Dank! Politik kann also auch anders, als wir sie oft erleben (müssen). Jedenfalls, wenn es darauf ankommt und die Not groß ist. Warum aber erst dann, frage ich mich. Und meine Antwort lautet: Im Wohlstand lässt sich trefflich streiten.
Am Ende dieses nachdenklichen, meditativen Spaziergangs fühle ich mich an das Licht einer Kerze erinnert, das Hoffnung ausstrahlt, aber jetzt dem rauen Wind der Corona-Wirklichkeit ausgesetzt ist und sich mit aller Kraft gegen das Verlöschen wehrt. Die Kerze steht für jeden, der jetzt an seinem Platz das Beste gibt und besonders für den, der im persönlichen Kampf mit dem Virus steht. Möge aller Schaffen und Mühen von Erfolg gekrönt sein und zur Überwindung der Krise und Krankheit führen. Ich vertraue und hoffe darauf mit Gottes Hilfe!
Ja, Ostern rückt in den Blick, 2020 allerdings mit der Gefahr im Nacken. Als Novum wird dieses höchste Fest der Christen wohl – eigentlich unvorstellbar – ohne überfüllten Petersplatz und mit fast leeren Kirchen in die Annalen der Geschichte eingehen, weil ein Virus eingeschlagen hat, unerwartet und gefährlicher als manche Bombe. Aber vor Ostern liegt der Karfreitag, und wer Ostern erreichen will, muss sich auch dem Karfreitag stellen. Vielleicht sollten wir das als Fingerzeig und Aufgabe sehen und annehmen.
Bleiben Sie gesund und hoffnungsfroh: Alles geht vorüber! Aber das Hinterher ist oft ein anders als das Vorher. Manchmal auch ein radikal anderes! Damit müssen wir leben (lernen)!
Hans-U. Feller